Machining 4.0 mit Schweizer Beteiligung gestartet
Der Startschuss für die Schweizer Beteiligung am Interreg-Projekt mit dem klingenden Namen «Towards the machining shop-floor of the future», kurz Machining 4.0, fiel beim Swiss Mechatronics Visit am 7. Dezember 2018 an der ZHAW in Winterthur. Mit dem Projekt soll die Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittelständischer Unternehmen gestärkt werden.
Interreg ist ein Förderprogramm der EU für regionale Entwicklung, das thematische Schwerpunkte ausschreibt, auf welche sich Forschende mit Projektideen bewerben können. Initiant des Projektes Machining 4.0 ist das Projektkonsortium unter Führung des Koordinators Sirris, einem belgischen Kooperationszentrum für die Technologieindustrie. Da die Schweiz keine Mittel aus dem EU-Regionalfonds erhält, erfolgt die Finanzierung der Schweizer Projektpartner aus einer Kombination von Bund und Kantonen.
Verschiedene Massnahmen werden im Rahmen des Projektes innerhalb der kommenden drei Jahre entwickelt und durchgeführt, um KMU der spanenden Industrie bei der Digitalen Transformation zu unterstützen. Damit soll verhindert werden, dass Produktionen aus Hochlohnländern ins günstigere Ausland abwandern.
Wissens- und Know-how- Transfer ist eine der Massnahmen. Zu diesem Zweck ist im Projekt ein internationales Onlineportal geplant, dass das Know-how der Spanenden Industrie zum Thema Digitalisierung gebündelt in Englisch zur Verfügung stellt. Die Homepage für das Portal ist bereits online: www. machining4.0.eu. Mit einer intelligenten Suche können sich Interessierte künftig dort umfassend über den aktuellen Stand der Technik, vorhandene Technologien, Best Practices und mögliche Technologiepartner informieren.
Ausserdem entstehen an sieben Standorten Demonstratoren, die die unterschiedlichsten Aspekte der Digitalisierung veranschaulichen, von Assistenzrobotern über digitale Arbeitsvorbereitung hin zu ganzen Lernfabriken. Sie bilden zusammen ein Feldlabornetzwerk. Eine der Lernfabriken wird am Institut für mechatronische Systeme (IMS) an der ZHAW entwickelt und dort bereits erfolgreich in der Ausbildung eingesetzt. Die Demonstratoren sollen KMU die Möglichkeit bieten, Konzepte und Anwendungen der Digitalisierung zu studieren, ihre eigenen Ideen einzubringen und Funktionalitäten im Labormassstab testen zu können.
Als weitere Massnahmen werden Coachingstunden angeboten sowie finanzielle Anreize gesetzt: KMU können sich in naher Zukunft direkt auf machining4.0.eu um sogenannte «Vouchers» bewerben. 50 ausgewählte Projekte erhalten mit dem Voucher eine Finanzierung der ersten 12’000 Euro in Arbeitsstunden.
Die Aufgabe von Swiss Mechatronics bei Machining 4.0
In den kommenden Monaten wird Swiss Mechatronics darauf fokussieren, die Spanende Industrie auf das Cluster aufmerksam zu machen und für eine aktive Beteiligung am Projekt zu gewinnen. Das Cluster versteht sich als erster Ansprechpartner für alle Schweizer Unternehmen, die sich bei Machining 4.0 einbringen wollen oder auf Know-how-Suche sind. Zusammen mit Industriepartnern und Mitgliedern wird Swiss Mechatronics jährlich fünf sogenannte Technology Sheets sowie drei Testimonials mit Anwendungsbeispielen als Schweizer Beitrag für die Know-how-Plattform liefern. Know-how-Träger sind gefragt, hierfür Ideen einzureichen.
Eine Delegation des Clusters Swiss Mechatronics nimmt regelmässig an internationalen Treffen des Projektkonsortiums teil und informiert im Anschluss Mitglieder und Interessierte.
Das erste internationale Treffen fand am 17. Januar 2019 statt. Im Rahmen der National Manufacturing & Supply Chain Conference & Exhibition in Dublin wurde das Projekt offiziell gestartet. Swiss Mechatronics präsentierte sich an einem Stand in der begleitenden Ausstellung. In einem Treffen des Projektkonsortiums wurden die Demonstratoren der beteiligten Regionen vorgestellt und erste Teams zur Zusammenarbeit vereinbart.
Die einzelnen Betreiber der Demonstratoren sind in den kommenden Monaten gefordert, Informationen über die Funktionen ihrer Demonstratoren zusammenzutragen sowie darüber zu berichten, wie diese sich innerhalb des Projekts weiterentwickeln sollen.
Anwendungsbeispiel: Digitalisierung in der Spanenden Industrie
Ein wichtiger Aspekt des Interreg- Projektes ist es, Anwendungsfälle zum Thema Digitalisierung in der spanenden Industrie zu sammeln und in Form von Testimonials in der Know-how-Datenbank zur Verfügung zu stellen. Firmen mit ähnlichen Problemstellungen wird damit ermöglicht, den richtigen Partner zu finden und erfolgversprechende Technologien kennenzulernen.
Einen solchen Anwendungsfall stellte beim Swiss Mechatronics Visit Matthias Eppler von der Firma Pragma Engineering vor. Ein Kunde des Engineering Unternehmens ist das Schweizer Traditionsunternehmen Küng, das Flöten aus Massivholz durch spanende Bearbeitung herstellt.
Ausgangslage und erster Schritt in die Digitalisierung
Die Fertigungsunterlagen für die Flöten bestanden bis anhin nur in Form von Handzeichnungen aus den siebziger Jahren. Die Produktion erfolgte auf teilweise historischen Maschinen, was mit der Verwendung von mechanischen Lehren und mit häufigem Umspannen des Werkstücks einherging. Das machte die Fertigung zeitaufwändig und unflexibel.
Ein erster Schritt zur digitalen Transformation der Flötenherstellung bestand darin, 3D-Modelle der zu fertigenden Flöten zu generieren. Sind diese Modelle erst vorhanden, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten für die Produktion, wie etwa der Einsatz zeitgemässer Maschinen und die teilweise Automation.
Produkt für unerschlossene Marktsegmente
Der Flötenmarkt weist zwei grosse Marktsegmente auf: günstige Kunststoffflöten und teure, wertige Vollholzflöten. Die Kunststoffflöten kosten zwischen CHF 10 bis 30 und werden auch von renommierten Herstellern angeboten. Aus dem vollen Holz gefertigt kostet eine Flöte zwischen CHF 90 bis 110. Dazwischen findet sich viel Platz für ein mittleres Marktsegment. Pragma Engineering wurde daher vom Flötenhersteller Küng beauftragt, ein neuartiges Produkt für dieses Marktsegment zu entwickeln. Die neuen Flöten sollen einen Endverkaufspreis von CHF 50 bis 75 erzielen, wobei Herstellungskosten im Bereich von 50 Prozent des angestrebten Verkaufspreises angestrebt werden. Ausserdem sollen die Flöten aus Holz gefertigt werden und auch als Holzflöte erkennbar sein. Angestrebt wird, dass die Flöten bezüglich ihrer akustischen Eigenschaften mit den guten Kunststoffflöten mithalten können, optisch und haptisch jedoch deutlich wertiger sind.
Nachhaltig, regional und wettbewerbsfähig
Pragma Engineering entwickelte folgenden Lösungsvorschlag: Für die Herstellung wird ein Kunststoff aus 100 Prozent Holz verwendet. Produkte aus diesem nachhaltigen Material sehen aus wie Wurzelmaser und riechen wie Holz. Dennoch kann dieser Kunststoff im Spritzgussverfahren günstig weiterverarbeitet werden.
Mit diesem Werkstoff hat Pragma Engineering einige Erfahrungen. So entwickelte das Unternehmen bereits mit Erfolg ein Produkt für die einheimische Tabakindustrie, bei welchem Holzoptik und -duft im Vordergrund stehen.
Die Entwicklung des Produktes schreitet vielversprechend voran. Derzeit werden die akustischen Eigenschaften des Werkstoffs geprüft, indem eine Flöte aus einem Block aus verklebten Holzkunststoffplatten «gespant» wurde. Später werden die Flötenteile im Spritzgussverfahren hergestellt. Direkt aus dem Werkzeug genügen diese jedoch nicht den Qualitätsanforderungen und müssen daher spanend nachbearbeitet werden. Hierfür gilt es, verschiedene Prozessschritte wie Oberflächenbehandlung, Imprägnierung und Polieren zu realisieren und zu automatisieren.
Besonders bemerkenswert bei diesem Anwendungsfall: Die Wertschöpfung des Produktes liegt bei nahezu 100 Prozent in der Schweiz, da in der Region entwickelt und produziert wird, mit nachhaltigen Rohstoffen zu vernünftigen Preisen. Mit diesem Produkt rechnet sich der Schweizer Flötenhersteller Küng auch Chancen auf dem internationalen Markt aus.
Das IMS und seine Lernfabrik im Projekt Machining 4.0
Das IMS engagiert sich als Ideengeber im Interreg-Projekt Machining 4.0 und stellt seine Lern-fabrik «SmartPro 4.0» für das Feldlabornetzwerk zur Verfügung. SmartPro wurde mit ausgewählten Industriepartnern (Bosch Rexroth AG, Hans Wittich GmbH, Jenny Science AG, REA JET Swiss GmbH, Siemens AG, Sigmatek AG, SMC AG, Stäubli AG, der MSW sowie ausgewählte Hochschulpartner) an der ZHAW entwickelt.
Ziel der digitalen Lernfabrik ist es, eine Plattform zu betreiben, in der Forscher, Industrieunternehmen und Studierende die Möglichkeit haben, neue Industrie 4.0-Konzepte zu entwerfen, diese an konkreten Anwendungen zu testen und daran zu lernen.
«Mit der Lernfabrik können wir den Wissenstransfer in die Praxis enorm vorantreiben und beschleunigen. Damit erzeugen wir eine Win-win-Situation für Industrie und Hochschule», erklärt Prof. Hans Wernher van de Venn.
Fähigkeit zur Selbststeuerung und Skalierbarkeit
Bei SmartPro sind nicht nur die einzelnen Arbeitsstationen, sondern auch das Produkt selbst intelligent. Ein Werkstück kann den Weg durch die Produktion in Abstimmung mit allen zur Verfügung stehenden Produktionsressourcen und auch dem Menschen selbst bestimmen. Aus dieser Intelligenz ergibt sich, dass das Produkt nicht einer fest vorgegebenen Montagestrasse folgen muss. Die Anlagenkonfiguration kann automatisch an die jeweilige Situation in Produktion, Zulieferlogistik, Absatzmarkt oder allem zusammen angepasst werden. Das bedeutet, dass die Prozesse selbst und die Strukturen einer Industrie 4.0- Produktion skalierbar werden.
Intelligente Vernetzung in der Cloud
Industrie 4.0 ermöglicht über die intelligente Vernetzung eine Auslagerung von Steuerungsfunktionen und Daten an entfernte IT-Komponenten (Clouds). Clouds verfügen über Möglichkeiten, zusätzliche Funktionalitäten zu realisieren wie zum Beispiel die KI basierte Auswertung grosser Datenvolumina und die Nutzung von Apps zum standortunabhängigen und mobilen Datenzugriff, sogenannter Connected-worker- Lösungen.
Produktion und Logistik werden heute noch weitgehend getrennt betrachtet. Durch die Vernetzung aller Komponenten ist es jedoch in Zukunft möglich, beides als Gesamtsystem anzusehen und zu optimieren, unter anderem mithilfe von KI-Tools in der Cloud. In der Lernfabrik ist das Transportsystem ein cyberphysisches System wie alle anderen Anlagenteile und damit ein integraler Bestandteil der Anlage. Es nimmt Aufträge aus der Cloud an und führt sie in Abstimmung mit der Gesamtanlage aus. Die Anlage lässt sich über die Cloud mit weiteren Systemen vernetzen (Zulieferer, ausgelagerte Produktionsschritte).
SmartPro 4.0 kann auf Anfrage am ZHAW-Institut für Mechatronische Systeme in Winterthur besichtigt werden.
Transparenz
Eine weitere Eigenschaft der digitalen Produktion ist, dass sich die Transparenz deutlich erhöhen lässt. Der Informationsfluss ist nicht länger im Wesentlichen an den Materialfluss gebunden, sondern die Information über alle Zustände einer Produktionsanlage ist jederzeit und an jedem Ort verfügbar. Alle realen Komponenten der Lernfabrik haben ihren digitalen Zwilling, auch das Produkt selbst. Damit kann die Anlage bereits optimiert werden, wenn sie noch gar nicht real existiert. Später kann jederzeit beliebig tief in die Anlage hineingeschaut und beispielsweise das optimale Verhalten mit dem realen verglichen werden. Über-oder unterschreitet ein Sensorwert einer realen Komponente den optimalen Wert aus der Simulation im digitalen Zwilling, können entsprechende Massnahmen ergriffen werden.
Dies sind Beispiele für Konzepte, die in der Lernfabrik SmartPro im Bereich Industrie 4.0 vermittelt werden können und die für die Arbeit in der modernen, digitalisierten Produktion unumgänglich sind.
Erschienen in der Maschinenbau Nr. 4 April 2019. Den original Artikel finden Sie hier.